Interview "diepresse.com" – von Julia Wenzel
"Ein Minister, der nur wegschaut, muss zurücktreten"
SPÖ-Bildungssprecherin Petra Vorderwinkler übt Kritik an Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) und stellt sich die Frage, „wie sinnvoll die Matura überhaupt noch ist“.
Wären Sie Bildungsministerin, würden Sie die Maskenpflicht in Schulen wieder einführen?
Petra Vorderwinkler Ich bin keine Virologin und keine Epidemiologin. Die Aufgabe des Bildungsministers ist es, in enger Abstimmung mit dem Gesundheitsminister ein Konzept zu verordnen. Natürlich ist der Raum in der Schule eng. Es geht nicht, dass man das Virus einfach laufen lässt.
Minister Martin Polaschek (ÖVP) hat angekündigt, dass es nach den Osterferien nur noch einen PCR-Test pro Woche in den Schulen gibt. Ist das der richtige Weg?
Wir waren immer dafür, dass mit den engmaschigen Tests ein relativ sicherer Unterricht gewährleistet ist. Gerade jetzt auf dem Omikron-Peak, nach den Osterferien, die Tests zurückzuschrauben ist nicht der richtige Weg. Die Sicherheit muss für die Kinder bis zum Schulschluss gewährleistet sein.
Die mündliche Matura ist heuer wieder verpflichtend. Sie kritisieren das. Wieso?
Der jetzige Jahrgang hat zwei Jahre Coronapandemie durchlebt. Gerade jetzt sind viele Pädagogen in Quarantäne. Die Maturanten können sich nicht gut vorbereiten. Ich bekomme Hilfeschreie per Mail von Schülern. Sie waren zwei Jahre dem puren Chaos ausgesetzt und de facto im Selbststudium. Jetzt kommt eine Matura auf sie zu, als wäre nie etwas gewesen. Ein Minister, der nur wegschaut, nichts tut und den Schülern das Leben noch zusätzlich erschweren will, muss zurücktreten.
Die schriftliche ist für die meisten die größere Hürde. Die mündliche Matura erfolgt ja nur in Fächern, die man selbst wählt.
Man muss die Frage stellen, wie sinnvoll die Matura überhaupt noch ist. Das wäre der passende Anlass dazu.
Ist sie denn nicht mehr sinnvoll?
Sie gehört zu einem veralteten Schulsystem, das nicht mehr auf die Herausforderungen von heute und schon gar nicht auf morgen vorbereitet. Dass es einen Abschluss einer Schulform geben muss, dafür bin ich schon. Aber die Matura in dieser Form wird man, genauso wie das gesamte Schulsystem, immer kritisch evaluieren müssen.
Sie wurde über Jahre hinweg – unter roten Bildungsministerinnen – zur jetzigen Zentralmatura reformiert.
Ich denke, dass das ganze Bildungssystem verändert gehört. Es gehört auf neue Beine gestellt. Wenn wir Finnland hernehmen, wo vor 30 Jahren begonnen wurde, das System rigoros umzubauen, sieht man, dass man damit Erfolg hat. Das wäre bei uns auch möglich. Die Missstände waren schon so groß und wurden durch Corona noch größer.
Welche Missstände meinen Sie?
Wir haben Lehrpläne, die auf bloßem Wissenserwerb basieren. Wissen, zu dem heute ohnehin jeder mittels Laptop und Smartphone Zugang hat. Für die kommende Generation wird es darüber hinaus wichtig sein, zu unterscheiden, woher ich dieses Wissen und vor allem gesichertes Wissen hole. Dafür gehört auch die Ausbildung der Pädagogen evaluiert und reformiert.
Seit 1945 saß die SPÖ 34 Jahre lang im Bildungsministerium. Wieso konnte man sich da nie gegen die ÖVP durchsetzen?
Das sieht man ja jetzt auch bei den Grünen. Wenn der Finanzminister von der ÖVP besetzt ist, wird es nicht funktionieren.
Sie fordern einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Ein solcher würde die Personalnot kurzfristig weiter verschlimmern. Wozu das Schlagwort?
Jeder weiß, was damit gemeint ist. Über die Ausgestaltung kann man reden. Wichtig ist, dass jedes Kind einen Platz in einem ganztägigen Kindergarten hat. Es müssen überall dieselben Bedingungen herrschen.
In Vorarlberg setzt ÖVP-Landeschef Wallner einen „Versorgungsauftrag“ an die Gemeinden um. In drei Stufen sollen Kinder Anspruch auf Betreuung haben.
Das ist wieder Klein-Klein-Denken. Der Bildungsminister sollte sich bemühen, dass es keine Unterschiede mehr gibt. Bei den Bildungseinrichtungen funktioniert es ja auch. Wieso kann man den elementaren Bereich nicht als erste Bildungsinstitution sehen?
Weil er laut Verfassung Ländersache ist.
Daher bin ich dafür, dass die gesamte Bildung in Bundeskompetenz in einer Hand liegt.
Sie stellten im Parlament einen Antrag auf Doppelbesetzungen in Volksschulen. Die Regierungsparteien stimmten – aufgrund des aktuellen Personalmangels – nicht dafür. Nun sagen Sie, dass ihr die Volksschulen egal sind. Ist das „Showpolitik“, wie Ihnen die ÖVP vorwirft?
Besondere Aufgaben erfordern besondere Antworten. Man müsste den Praxisanteil bei Studierenden erhöhen. Musiker, Künstler und Sportler könnte man mit einem Sondervertrag anstellen. Damit würden Kapazitäten frei für Doppelbesetzungen, zumindest in Mathematik und Deutsch. Aber Polaschek lässt auch hier alle Bildungseinrichtungen allein und schaut weg.
Zur Person
Petra Vorderwinkler ist seit fast einem Jahr Bildungssprecherin der SPÖ. Sie war 20 Jahre als Lehrerin und von 2016 bis 2020 als Direktorin der Volksschule Fischamend tätig und war auch als Personalvertreterin aktiv. Die Niederösterreicherin (Bezirk Wiener Neustadt) sitzt seit Oktober 2019 im Nationalrat.
Wien, 31. März 2022